In der Kampagne für ein ‚Ja‘ bei der Volksabstimmung über die
Zuwanderung fiel mir folgende Plakatüberschrift auf: „Maßlosigkeit schadet!“
Ich könnte mir vorstellen, dass so mancher Schweizer mit ‚Ja‘ gestimmt hat,
weil ihn diese Überschrift überzeugt hat und nicht unbedingt weil er gegen
Zuwanderung ist. Ist denn die Schweiz nicht mehr maßvoll?
Das Paradoxe ist, dass die Schweiz einerseits in sehr, sehr
vielen Punkten ein Prototyp für andere Länder (wie z. B. Österreich) sein
könnte und sollte: eine hervorragende und sehr teure Infrastruktur;
ausgezeichnete soziale Sicherungssysteme; erstklassige öffentliche
Dienstleistungen; hohe Einkommen bei mehr als Vollbeschäftigung; ein Exportboom
trotz überteuerter Währung; extrem niedrige Steuern; etc. — und all dies bei
einem ausgeglichenen Budget und sinkender Staatsverschuldung! Zusätzlich hat
die Schweiz auch noch eine hervorragend funktionierende Demokratie.
Andererseits wird die Schweiz zunehmend eine Gefangene ihres
Erfolges: der Zufluss an Auslandskapital (aus den Titeln
„Leistungsbilanzüberschuss“ wie auch „Veranlagung“) kann im Inland bei weitem
nicht mehr verwendet werden: die Schweizer Volkswirtschaft hat derzeit rund das
6-fache ihres Nationalproduktes im Ausland veranlagt. Finanziell betrachtet hat
sich die Schweiz exportiert.
Unser jüngerer Sohn (30) arbeitet und lebt seit über 7 Jahren
in der Schweiz. Ich kenne sein Jahreseinkommen und seinen Lebensstandard. Er
sucht derzeit eine Immobilienanlage und bewegt sich in einer Preisklasse von
1,5 Mio.CHF und sogar mehr. Ist das maßvoll?
Die Schweiz importiert nicht – wie die Länder des Südens –
Konsumgüter in exorbitantem Ausmaß und Schulden. Stattdessen importiert sie
Fachkräfte, die zwischenzeitlich ein sehr wichtiger Faktor für das Schweizer
Wirtschaftswachstum geworden sind. Das Nationalprodukt eines Landes basiert auf
der Gleichung „Anzahl Erwerbstätige x Produktivität“. Die Schweizer
Produktivität war schon immer sehr hoch gewesen und in den letzten Jahren stieg
auch die Anzahl der Erwerbstätigen massiv. Wenn man eine solche Spirale ins
Positive als Gefahr sieht, wie könnte man sie einbremsen? Sollte die Schweiz
das überhaupt wollen?
Was mich an der Schweiz immer überrascht, ist, dass man –
abseits von Ballungszentren und mondänen Orten – sehr oft Bauernhöfe und
Ortschaften findet, die an das 19. Jahrhundert erinnern. Da trifft man
beispielsweise im Zentrum des mondänen Skiortes Flims auf einen Kuhstall, der
unangenehme Düfte verbreitet. Ähnliches auch innerhalb 20 Fahrminuten vom
Zürcher Stadtzentrum entfernt. Jeder, der mit der Schweizer Straßenverkehrs-
und Parksituation vertraut ist, weiß, dass es dort nichts an Maßlosigkeit gibt.
Im Gegenteil, auch die geringste Maßlosigkeit wird sehr hoch bestraft. Die
enorm reiche Schweiz ist in vielen Bereichen ein Musterbeispiel des Maßvollen.
Nicht umsonst rügen viele Kritiker die Schweizer dafür, dass sie so langweilig
(so maßvoll?) sind. Maßlosigkeit funktioniert wie ein Pendel: je mehr sie
ausschlägt, desto größer die Gegenwirkung, so diese einmal kommt. Besteht für
den Schweizer Erfolg das Risiko einer negativen Gegenwirkung?
Die Schweizer haben immer nach dem Motto „hart arbeiten und
sauber leben“ gehandelt. Bloß nicht protzen; bloß nicht gierig sein! Ist diese
Lebensweise jetzt gefährdet? Der deutsche Finanzminister Schäuble hat auf das
Schweizer Votum mit folgenden Worten reagiert: “Es zeigt natürlich ein
bisschen, dass in dieser Welt der Globalisierung die Menschen zunehmend
Unbehagen gegenüber einer unbegrenzten Freizügigkeit haben. Ich glaube, das müssen
wir alle ernst nehmen.” War das Schweizer Votum gegen die Zuwanderung gerichtet
oder auch gegen eine Art von Maßlosigkeit, die dem herkömmlichen Schweizer
Wesen nicht entspricht und die noch keinem Land auf Dauer Gutes gebracht hat?
Wie bremst man Maßlosigkeit ein? Ein Votum über die Zuwanderung ist kein
elegantes Mittel, aber: welche anderen Mittel gäbe es?