Vor Jahren
hatte es Zeiten gegeben, als ich dachte, Peter Michael Lingens und Christian
Ortner wären sich in weltanschaulichen Themen recht ähnlich. Damit ist es
vorbei, seitdem Lingens Deutschland zum Hauptproblem Europas erkoren hat
(PROFIL vom 25.10.2014) und Ortner daraufhin diesen Artikel mit spitzer Zunge
als „originelle Theorie“ würdigte (Die Presse vom 31.10.2014). Selten hat man
Gelegenheit, die beiden Argumentationslinien, die heutzutage Ökonomen von nah
und fern auseinander dividieren, in so klarer und eloquenter Art und Weise
dargestellt zu bekommen. Auf der einen Seite ein gemilderter Elder Journalist,
der sich im Alter ganz offensichtlich viel mit John Maynard Keynes und mit dem
„new economic thinking“ progressiver, größtenteils angelsächsischer
Intellektueller beschäftigt. Auf der anderen Seite das kompromisslose
Sprachrohr des Neoliberalismus.
Die „new
economic thinker“ verfügen über eine wettbewerbsverzerrende Trumpfkarte: manche
ihrer Argumente klingen so plausibel, so verführerisch einfach, dass man gar
nicht erst auf den Gedanken kommt, sie inhaltlich zu hinterfragen. Lingens
erklärt der Welt „schon zum x-ten Mal“, dass Anhänger des Austerity-Paktes die
Grundrechnungsarten nicht beherrschen; dass die Wirtschaft schrumpfen muss,
wenn alle Staaten ihre Ausgaben zurückfahren („Wenn fünf Zuschauer in einem
Kino aufstehen, sehen sie besser als der Rest. Aber wenn alle aufstehen, ist
die Sicht wieder für alle gleich – nur haben sie es sehr viel unbequemer“).
Etwas verklärt erinnert sich Lingens an die eherne Formel des seinerzeitigen
ÖGB-Präsidenten Anton Benya, dass „drei Prozent Produktivitätssteigerung drei
Prozent Lohnsteigerung sein müssen“ und er erkennt darin mehr
volkswirtschaftliches Verständnis, als derzeit bei Angela Merkels Beratern zu
finden ist. Und wenn sogar Renault-Motoren vier Mal die Formel 1 vor Mercedes
oder BMW gewinnen, dann ist wohl alles über die Leistungsfähigkeit der
französischen Wirtschaft gesagt.
Im Vergleich
dazu ist Ortner ein wahrhaftiger Kleindenker, wenn er die Frage stellt, warum
der Bau einer unnötigen neuen Autobahn in Deutschland auf Pump dem Verkauf
wenig wettbewerbsfähiger französischer Autos irgendwie helfen könnte (meines
Wissens baut Frankreich heute nur halb so viele Autos wie vor 10 Jahren und in
Italien ist es nicht viel besser, obwohl auch Italien in der Formel 1
erfolgreich war).
Die deutsche
Wirtschaft steht in der Tat vor großen Herausforderungen; vielleicht sogar vor
großen Problemen. Die unzureichende Hilfestellung für seine europäischen
Partner gehört eher nicht dazu. Wenn man Hans-Olaf Henkel Glauben schenken
darf, dann hat der Euro der deutschen Wirtschaft nicht gut getan, weil
Deutschland sich mit dem Vorteil eines billigen Euro (zumindest billiger als es
die D-Mark wäre) und mit dem Rückenwind der Versäumnisse seiner
Eurozonen-Partner (und vormaligen großen Mitbewerber) nicht mehr so anstrengen musste
wie in Zeiten der D-Mark. Stichworte: unzureichende Innovationen und
Investitionen, vor allem auch Investitionen in Bildung. Von 2000-13 gingen die
Investitionen in Deutschland von 22% des GDP auf 17% zurück. Die Anzahl der
Lehrstellen ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Der
Anteil der Universitätsabsolventen ist in Deutschland (29%) niedriger als in
Griechenland (34%). Nur wenige deutsche Universitäten schaffen es unter die 50
besten der Welt. Im „Doing Business Report“ der Weltbank rangiert Deutschland
auf Platz 111 mit Bezug auf die Bürokratie bei Unternehmensgründungen. Und ja,
Deutschlands Löhne und Gehälter sind in Summe seit dem Euro real nicht viel
gestiegen, obwohl die Produktivität um 17% gestiegen ist (Anton Benya lässt
grüßen). Wenn man all dies vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung
Deutschlands betrachtet, dann muss man sich an das Buch von Hans-Werner Sinn
erinnern, wo er vor 10 Jahren die Frage stellte „Ist Deutschland noch zu
retten?“
Es also in
der Tat nicht alles heil in Deutschland, vor allem, wenn man berücksichtigt,
dass es in der erfolgreichsten Volkswirtschaft Europas Millionen von
Arbeitnehmern gibt, deren Einkommen nicht weit über dem Existenzminimum liegt.
Allerdings ist auf den ersten Blick nicht erkennbar, weshalb sich eine Heilung
der deutschen Probleme direkt zum Vorteil seiner Eurozonen-Partner auswirken
würde. Im Gegenteil, die schwächeren Eurozonen-Partner scheinen sich doch eher
zu wünschen, dass Deutschland schwächer werden möge und nicht noch stärker.
Wenn
Frankreich vorschlägt, dass es selbst 50 Milliarden Euro sparen würde, wenn
Deutschland 50 Milliarden Euro mehr ausgibt, dann ist das gar nicht so falsch,
weil der Hintergedanke ist, dass Deutschland die zusätzlichen 50 Milliarden
Euro in Frankreich ausgeben sollte, damit dort die Anpassungen leichter zu
verkraften sind. Das könnte schon funktionieren, allerdings nicht so, wie es
sich die Franzosen aller Wahrscheinlichkeit vorstellen.
Deutschland
könnte Wunder für seine Eurozonen-Partner bewirken, wenn es seine Importe von
außerhalb der Eurozone in die Eurozone verlagern würde. Es gibt jedoch keinen
Import-Zar in Deutschland, der in einem Zentralkomitee bestimmt, was von wo
importiert wird. Und vor allem gibt es kein Importverbot für Eurozonen-Partner.
Stattdessen ist es die Vielzahl der deutschen Unternehmen und Verbraucher, die
ihre eigenen Entscheidungen treffen, was sie aus welchem Land importieren
wollen.
Die deutsche
Exportbesessenheit ist vielen ein Dorn im Auge. Der Ausdruck
„Beggar-thy-neighbor-Politik“, der zum Standardrepertoire vieler „new economic
thinker“ gehört, unterstellt Deutschland, seine Exporterfolge zu Lasten seiner
Eurozonen-Partner zu erzielen. Mit Fakten ist das allerdings nicht zu
unterlegen, weil Deutschlands Anteil an weltweiten Exporten von 9,1% (2007) auf
8% (2013) gesunken ist. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass mittlerweile
ein ganz erheblicher Teil der deutschen Exporte aus ausländischer Wertschöpfung
besteht (Hans-Werner Sinn nannte Deutschland deshalb einmal eine
Basar-Ökonomie). Es kann einfach nicht zum Vorteil der Eurozone sein, wenn man
von einem wichtigen Mitgliedsstaat erwartet, Anteile am Weltmarkt abzugeben.
Wie gesagt:
die deutsche Wirtschaft könnte für die Eurozone Wunder bewirken, wenn sie ihre
Importe aus Eurozonen-Ländern massiv steigern würde. Es gibt kein Verbot, dies
zu tun. Man wird sich nur überlegen müssen, was zu tun ist, dass deutsche
Verbraucher (wieder) mehr Autos aus Frankreich und Italien kaufen (und zu einem
späteren Zeitpunkt vielleicht sogar iPhones aus Griechenland). Wer diese Frage
an Deutschland adressiert, hat sich in der Adresse geirrt.
Originalveröffentlichung hier.
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