Alexis
Tsipras hat seine linksradikale Partei SYRIZA zu einem fulminanten Wahlsieg
geführt. Wenn man berücksichtigt, dass es SYRIZA als Partei erst seit Mai 2012
gibt, wird man sich der Tragweite dieses Ergebnisses bewusst. Jetzt erhielt
SYRIZA 36 Prozent der Stimmen und die Nea Dimokratia, die bisher größte Partei,
ist mit 29 Prozent deutlich abgeschlagen. Die zweite vormals staatstragende
Partei, PASOK, die bei den Wahlen 2009 sogar 44 Prozent der Stimmen erzielt
hatte, ist nunmehr mit nur 5 Prozent der Stimmen auf dem Weg ins politische
Abseits. Der Großteil der PASOK-Wähler ist zu SYRIZA abgewandert.
Mit 149
Sitzen hat SYRIZA knapp die Mehrheit im Parlament verpasst. Binnen Stunden hat
Tsipras beschlossen, mit den Unabhängigen Griechen eine Koalition zu bilden.
Das kam überraschend, weil die Unabhängigen Griechen eher mitte-rechts stehen.
Allerdings sind sie, wie SYRIZA, absolut anti-Austerität. Trotzdem war es ein
Zeichen dafür, wie ideologisch flexibel Tsipras ist.
Der Wahlsieg
von SYRIZA ist weniger als eine Entscheidung für die Linken zu werten, sondern
vielmehr als eine Absage an die Sparpolitik der Troika. Nach fünf Jahren des
Niedergangs konnten viele Griechen einem Messias nicht widerstehen, der Freude,
Hoffnung und Optimismus versprühte – der ihnen versprach, dass alles wieder
viel besser wird. Und zwar bald. Wie sieht nun das Programm von SYRIZA aus?
Was SYRIZA
will
Auf Basis
einer Rede, die Tsipras am 15. September 2014 in Thessaloniki hielt,
entwickelten seine Top-Berater ein neunseitiges „Konzept“ mit dem Titel „Whatthe SYRIZA government will do“. Man muss also dieses „Konzept“ als Grundlage
für eine Beurteilung von Griechenlands Zukunft heranziehen, wenngleich im
Wahlkampf führende SYRIZA-Vertreter – Tsipras eingeschlossen – wiederholt
andere und widersprüchliche Aussagen getroffen haben.
Das „Konzept“
könnte aus der Feder eines Amerikaners stammen, der nach dem Zweiten Weltkrieg
Deutschland wieder aufbauen wollte. Seine vier Säulen sind die Bewältigung der
humanitären Krise, die Ankurbelung der Wirtschaft und ein gerechtes
Steuersystem, neue Beschäftigung sowie die Transformation des politischen
Systems in eine bessere Demokratie. Die Detailmaßnahmen geben jedem Griechen
Hoffnung, dass es ihm bald besser gehen wird. Sie kosten 11 Milliarden Euro.
Gleichzeitig bringen sie Erträge von 12 Milliarden Euro, die von
Steuerschwindlern, Schmugglern und sonstigen Parasiten Griechenlands kommen
sollen. Es gibt wohl niemanden, der solchen Absichten widersprechen würde.
Die Tonlage
verändert sich deutlich, wenn SYRIZA den Gesamtkontext ihrer
Verhandlungsstrategie beschreibt. An erster Stelle steht dort ein
Schuldenverzicht des „größeren Teils der Staatsschulden“ im Rahmen einer
Europäischen Schuldenkonferenz analog zu jener von 1953. Griechenland soll in
den gleichen Genuss kommen wie das damalige Deutschland. Die verbleibenden
Schulden sollen an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden, mit dem Ziel, dass
bei niedrigem Wachstum die Schulden nur teilweise getilgt werden, verbunden mit
einem „möglichst langen“ Zinsmoratorium. Der Stabilitätspakt soll eingehalten
werden, allerdings unter Ausschluss öffentlicher Investitionen. Die Europäische
Investment Bank soll einen „European New Deal“ auf die Beine stellen. Und um
Deutschland vorzuwarnen: Das Thema der nicht getilgten Zwangsanleihe aus dem
Zweiten Weltkrieg soll auf den Verhandlungstisch kommen.
Es wäre ein
großer Fehler, das „Konzept“ von SYRIZA nicht ernst zu nehmen. Immerhin hat es
die Unterstützung von Nobelpreisträgern, wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz,
von sehr vielen international anerkannten Ökonomen und sehr vielen
Meinungsbildnern. Der Tenor dieser Unterstützer lautet: Die EU kann aus
moralischen Gründen nicht zuschauen, wie sich ein Mitgliedsland in ein
volkswirtschaftliches Kuba entwickelt. Ganz abgesehen davon, dass wegen SYRIZA
ein Umdenken seitens der EU erfolgen wird, mit dem Ergebnis, falsches Sparen
durch Wachstumsimpulse zu ersetzen.
Provozierter
„Grexit“?
SYRIZA wird
sich allerdings auf einige sehr konkrete Fragen seitens der EU vorbereiten
müssen, etwa die Fragen, wieso sich das „Konzept“ auf Maßnahmen konzentriert,
wie andere Länder Griechenland helfen können. Sie ignoriert dabei, wie
Griechenland sich selbst helfen könnte. Wieso glaubt Griechenland, dass eine
Art Marshallplan für Griechenland ähnlich erfolgreich wirken würde wie
seinerzeit für Deutschland, wenn Griechenland laut Doing Business Report der
Weltbank schon seit Jahren der unattraktivste Wirtschaftsstandort und laut
Amnesty International das korrupteste Land der EU ist?
Wieso werden
Infrastrukturinvestitionen Wunder für Griechenland bewirken, wenn sie in der
Vergangenheit Arbeitsplätze für billige Albaner und Schmiergelder auf Schweizer
Bankkonten zur Folge hatten? Ist Alexis Tsipras wirklich zum Paulus geworden
oder ist noch ein Teil von jenem Saulus in ihm, der schon im Gymnasium der
kommunistischen Partei beigetreten war; der schon damals seine heutige
Lebensgefährtin (und Mutter zweier Kinder, eines davon nach Che Guevara
benannt), die auch eine aktive Kommunistin war, kennengelernt hatte; der in den
letzten Jahren fast bei jeder Massendemonstration federführend und
aufrührerisch gewirkt hatte?
Wer ist
dieser Alexis Tsipras wirklich? Ist Tsipras’ Bekenntnis zur Eurozone wirklich
ehrlich oder ist es eine Reaktion auf Meinungsumfragen, die sagen, dass bis zu
75 Prozent aller Griechen den Euro beibehalten wollen? Weiß denn Tsipras
wirklich nicht, dass Griechenland ohne finanzielle Unterstützung und Know-how
aus dem Ausland rasch auf einen Lebensstandard von Jahrzehnten vorher
zurückfallen würde?
Manche
stellen sogar die Frage, ob Tsipras möglicherweise eine Strategie verfolgt, den
„Grexit“ zu provozieren, anderen die Verantwortung zuzuschieben und im Zuge
dessen eine „Scheidung mit großzügigen Alimenten“ zu verhandeln. Tsipras’
größte Herausforderung wird es aber sein, seine Partei zusammenzuhalten.
Gut ein
Drittel von SYRIZA ist radikal links; für sie gibt es keine Kompromisse. Manche
unter ihnen fordern öffentlich den Euro-Austritt. Beim Parteikongress 2013
hatten sie „unwiderruflich“ beschlossen, alle Memoranden mit der Eurozone sowie
die damit verbundenen Gesetze „am ersten Tag“ aufzukündigen und sämtliche
bisherigen Reformen rückgängig zu machen. „Der erste Schritt wird die
Wiederherstellung des Arbeitsrechtes, der Tarifverhandlungen, des Mindestlohns,
der Mindestpensionen, der Arbeitslosenversicherung und der Familienbeihilfen
auf das Niveau von vor der Krise sein.“ Dieser Beschluss ist nach wie vor
gültig. Wie Tsipras diesen Teil seiner Partei von notwendigen Kompromissen
überzeugen wird, ist derzeit noch ein Geheimnis.
Machtübernahme
zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt
Vollkommen
außerhalb von Tsipras’ Kontrolle ist jedoch das Vertrauen der griechischen
Sparer. Eine markante Depositenflucht hatte bereits im Dezember eingesetzt und
beschleunigte sich im Januar. Sollte nach der Wahl keine Beruhigung einkehren,
sondern sich die Nervosität verstärken, dann könnte sich durchaus ergeben, dass
auch Griechen, die mit dem Herz für SYRIZA stimmten, mit dem Hirn zugunsten
ihres eigenen Vermögens votieren. Ein Run auf die Banken würde wahrscheinlich
das Ende der gewählten Regierung bedeuten und Neuwahlen erforderlich machen –
vom allgemeinen Chaos ganz zu schweigen.
Faktum ist,
dass Tsipras die Regierungsverantwortung zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt
übernimmt. Seit Dezember gehen die Steuereinnahmen rasant zurück und es ist zu
bezweifeln, dass Griechenland derzeit noch einen Primärüberschuss hat. Falls
nicht, müsste der Staat von der Substanz leben, die Cash-Reserven waren zuletzt
jedoch weniger als zwei Milliarden Euro.
Am 28.
Februar läuft das derzeitige Troika-Programm aus. Tsipras wird sich gezwungen
sehen, das Programm vorläufig zu verlängern, weil andernfalls die EZB ihre
Refinanzierung des griechischen Bankensektors beenden würde. Wie wird Tsipras
seinen Anhängern erklären, dass er – statt sämtliche Vereinbarungen mit der
Troika aufzukündigen – diese Troika sogar um eine Verlängerung ersucht?
Ohne
Vereinbarung mit der Troika steuert Griechenland im ersten Halbjahr
unaufhaltsam auf die Zahlungsunfähigkeit zu. SYRIZA hat wiederholt betont, dass
es keinen Plan B gibt für den Fall, dass mit der Troika keine Vereinbarung
erzielt werden kann. Und jede Vereinbarung mit der Troika erfordert einen
erheblichen Kompromiss seitens Tsipras.
Etikettenschwindel
als Ausweg
Eine salomonische
Lösung wäre folgende: Man bedient sich eines sprachlichen Tricks und ersetzt
das Wort „Memorandum“ durch den Begriff „Langfristiger industriepolitischer
Entwicklungsplan“. Somit könnte Tsipras auf sein Konto verbuchen, das
Memorandum abgeschafft und stattdessen etwas für die Entwicklung Griechenlands
verhandelt zu haben. Statt einen Schuldenschnitt zu erreichen, wird die Troika
eine Streckung der Tilgungen, beispielsweise auf 50 Jahre und eine Senkung der
Zinsen anbieten. Ökonomisch hätte dies eine ähnliche Wirkung wie ein Haircut.
Die Troika
wäre sicherlich auch bereit, einen Beitrag zur Erleichterung der humanitären
Krise zu leisten und möglicherweise auch mehr. Die Troika wird jedoch mit
Sicherheit nicht von ihren Reformbedingungen abweichen. Wahrscheinlicher ist,
dass sie die Reformen sogar beschleunigt, weil Griechenland bei der Umsetzung
weit im Rückstand liegt. Tsipras hat bisher immer versichert, dass es keine
weiteren Reformen geben wird und dass bisherige Reformen aufgehoben werden. Dies
wird der Knackpunkt bei den Verhandlungen sein.
Andreas
Papandreou, Tsipras’ großes Vorbild, hatte es nach seiner Wahl 1981 geschafft,
einige seiner wesentlichen Wahlversprechen, etwa den Austritt aus der EU,
abzusagen, ohne den Rückhalt seiner Partei, PASOK, zu verlieren. Tsipras wird
Ähnliches schaffen müssen, sofern er länger im Amt bleiben und seine Vision für
Griechenland umsetzen möchte. Aus heutiger Sicht stehen die
Voraussetzungen dafür nicht gut.
Sollte
Tsipras scheitern, dann scheitert auch seine Regierung und Neuwahlen müssten
abgehalten werden. Dass die griechischen Sparer dann trotzdem noch ihr Geld bei
den Banken lassen werden, darf bezweifelt werden.
Originalveröffentlichung auf nzz.at hier.
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