Nach der
Lehre der reinen Vernunft ist es denkunmöglich, dass Staaten sich quasi
unbegrenzt verschulden können. Nach der Lehre der Praxis ist das gar nicht ganz
auszuschließen. Sicherlich nicht unbegrenzt, aber möglicherweise noch sehr,
sehr lange. Alles hängt von der wahrgenommen Verschuldungskapazität eines
Staates ab.
Jeder
Kreditnehmer – sei es eine Privatperson, ein Unternehmen oder ein Staat – hat
eine maximale Verschuldungskapazität. Das Problem ist nur, dass man diese
maximale Verschuldungskapazität im Vornherein nicht kennt, sondern sie erst
erfährt, wenn man sie überschreiten möchte. Bei Privatpersonen und Unternehmen
ist dies einfacher, weil der Kreditnehmer in Gesprächen mit seiner Bank
erfährt, wieweit die Bank bereit ist, ihn zu finanzieren. Anhand von Bilanzen,
G+V Rechnungen und/oder Haushaltsbudgets kann die Bank kalkulieren, wie viele
Schulden der Private oder das Unternehmen bedienen kann ohne pleitezugehen.
Irgendwann kommt der Punkt, wo die Bank sagt „bis hier her und nicht weiter“
und der Kreditnehmer muss sich anpassen.
Anders ist es
bei Staaten. Staaten sind souverän und können de jure nicht pleitegehen. Firmen
und Private können Insolvenz anmelden; Staaten können das nicht (mögliche
Ausnahme: ein Régimewechsel à la Zarenreich/Sowjetunion). Griechenland und
griechische Steuerzahler wird es immer geben. Sollte sich der Rest der Welt
weigern, den Griechen Schulden zu erlassen, dann bleiben diese Schulden auf
ewig aufrecht. Sollte Griechenland sich weigern, diese Schulden zu bedienen,
dann bleibt es auf ewig von der internationalen Finanzwelt ausgeschlossen. Nur
ein einvernehmlicher Schuldenerlass kann dieses Problem lösen.
Im Gegensatz
zu Privaten und Unternehmen gibt es bei Staaten keine empirische Grundlage, die
maximale Verschuldungskapazität zu errechnen (weil ein Staat nicht pleitegehen
kann). Die Frage bei Staatsschulden ist nicht, ob zukünftige Generationen damit
belastet werden, sondern wie viele. Zukünftige Generationen wird es immer
geben. Im Laufe der Zeit hat sich die Kennziffer „Staatsschulden als Prozent
der Wirtschaftsleistung“ als Messlatte etabliert. Und hier liegt der Hase im
Pfeffer: es gibt keine empirische Grundlage, auch nicht Rogoff & Reinhart,
die diese Messlatte glaubhaft belegen könnte. Es gibt nur eine
„vergemeinschaftete Erkenntnis der Märkte“, wie hoch diese Kennziffer werden
kann, bevor es Probleme gibt.
Als Bruno
Kreisky Bundeskanzler wurde, hatte meiner Erinnerung nach Österreich eine
Staatsverschuldung im einstelligen Bereich (Prozent der Wirtschaftsleitung).
Als sich Kreisky in Richtung 25% bewegte, warnten fiskalpolitische Experten vor
einem Bankrott Österreichs. Maastricht erhöhte diese „vergemeinschaftete
Erkenntnis“ auf 60%. Seit Griechenland liegt sie nunmehr bei 120%. Japan liegt irgendwo
um die 200%.
Angenommen,
eine Höhere Gewalt hätte Anfang der 1970er Jahre festgelegt, dass eine
Staatsverschuldung unter Androhung von Besatzung dieser Höheren Gewalt 60%
nicht überschreiten darf. Dann hätte Kreisky gewusst, wie hoch seine verbleibende
Verschuldungskapazität ist (vom einstelligen Bereich auf 60%, plus
Wirtschaftswachstum). Die Frage wäre lediglich gewesen, ob man diese
Verschuldungskapazität innerhalb einer Generation aufbraucht oder sie auf
mehrere verteilt. Nach Erreichen der Verschuldungskapazität wären zusätzlich
Schulden mit dem Wirtschaftswachstum limitiert. Gut für die erste Generation;
schlecht für die nächsten. Es gibt KEINERLEI Grundlage zu widerlegen, dass die
„vergemeinschaftete Erkenntnis“ über die maximale Staatsverschuldung in Zukunft
einmal als 500% (oder auch mehr) wahrgenommen werden könnte. Fiskalpolitiker
werden argumentieren, dass der Zinsaufwand die Budgeteinnahmen ‚auffressen‘
würde. Macht nichts. Man nimmt einfach neue Schulden auf, weil man noch weit
von den 500% (oder mehr) entfernt ist.
Keynes‘ Antwort darauf war – sinngemäß – „in the long
run we are all dead“. Dieser “long run” kann sehr, sehr lange sein und deswegen erscheint es
etwas vermessen, schon jetzt über ein keynesianisches Endgame zu sprechen.
Außerdem verbleibt noch ein sehr wirksames Instrument (das wir derzeit nur
seinenAnfängen kennenlernen), dem „long run“ entgegenzuwirken. Keynes nannte es
die „euthanasia of the rentier“. Heute wird es „financial repression“ genannt.
Auf gut Deutsch: eine negative Realverzinsung des Kapitals.
Die USA haben
sich eines Großteils ihrer kriegsbedingten Staatsverschuldung nach dem 2.
Weltkrieg nicht durch Wirtschaftswachstum, sondern durch „financial repression“
entledigt. Jahrelang wurde das Kapital negativ verzinst. Wir erleben heute die
Wiederholung dieses Prozesses, wir können aber kaum etwas dagegen tun. Wir
werden zwar nach wie vor auf lange Sicht alle tot sein, aber bis es soweit
kommt, werden die Sparer um Einiges ärmer werden.
Originalveröffentlichung hier.