Das Austrian Institute of Economics and Social Philosophy hat einen Artikel von Stefan Beig mit dem Titel "In einer Pandemie schützt nicht der Protektionismus, sondern die Globalisierung" veröffentlicht, der mich veranlaßt hat, nachstehende Stellungnahme abzugeben.
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Als überzeugter Wirtschaftsliberaler fühle ich mich immer gefordert, wenn ich Artikel von Wirtschaftsliberalen lese, die einseitig bzw. nicht ausreichend differenziert sind und somit beste Gegenargumente für Planwirtschaftler bieten. Der Artikel von Herrn Stefan Beig ist ein Bespiel dafür. Typischer Satz: "Klar ist auch: Jeder kauft Güter zuerst dort, wo sie – bei gleicher Qualität – am günstigsten sind.“
Das ist auf der Mikro-Ebene sehr vernünftig und plausibel. Auf der Marko-Ebene kann es auch vernünftig und plausibel sein, es kann aber auch extrem destruktiv werden. Freihandel, Gobalisierung, multi-nationale Lieferketten, etc. - das klingt alles sehr gut und kann auch in der Tat zu vermehrtem Wohlstand für alle Beteiligten führen, oder auch nicht. Der Wohlstand für alle Beteiligten wird nur dann nachhaltig gemehrt, wenn Freihandel, Globalisierung, multi-nationale Lieferketten über längere Zeiträume hinweg einigermaßen ausgeglichen sind. Wenn sich über längere Zeiträume strukturelle Ungleichgewichte entwickeln, dann wird es problematisch für alle Beteiligten.
Es geht natürlich nicht nur um den grenzüberschreitenden Handel mit Waren, sondern auch um jenen mit Dienstleistungen. Anders ausgedrückt: die Handelsbilanz ist wichtig, die Leistungsbilanz ist jedoch noch viel wichtiger.
Global betrachtet ist die Leistungsbilanz ein Null-Summenspiel, d. h. Überschüsse und Defizite gleichen sich aus. Daraus ergibt sich folgender kritischer Punkt: die Überschüssler mögen sich über ihre Überschüsse freuen, sie sollten jedoch verstehen, dass sie unweigerlich - vielleicht sogar, ohne sich dessen bewußt zu sein - mit ihren Überschüssen die Defizitler finanzieren müssen. Ganz abgesehen davon, dass die Jobs - etwas vereinfacht ausgedrückt - bei den Überschüsslern sind und nicht bei den Defizitlern. Dass die deutsche Volkswirtschaft - gemäß der Berechnung einer US Investment Bank - in den ersten 3 Jahren nach der Finanzkrise 2008 knapp 500 Mrd.EUR an Auslandsvermögen verloren hat, ist den Bürgern Deutschlands wahrscheinlich nicht bewußt, weil die Verluste nicht auf der Ebene des Staates, sondern darunter entstanden sind (Banken, Versicherungen, Konzerne). Dass die Jobs im amerikanischen Rust Belt nach Fernost wanderten, führte zur Präsidentschaft von Donald Trump.
In der Theorie ist alles ganz klar: jedes Land entwickelt seine eigenen comparative advantages und finanziert das, was es importiert, mit dem, was es exportiert. Und wenn diese Gleichung nicht aufgeht, dann erfolgt die Anpassung via den Wechselkurs.
In der Praxis funktioniert diese Anpassung sehr oft nicht mehr. Vor allem funktioniert sie nicht mehr für die Mitglieder der Währungsunion, wo der Euro für Deutschland zu billig und für Griechenland zu teuer ist. Griechenland ist übrigens ein sehr gutes Beispiel, wo ich meine eigene wirtschaftsliberale Überzeugungen testen mußte.
Rückblickend behaupte ich, dass das griechische Drama nicht mit dem Euro begonnen hat, sondern mit dem Beitritt Griechenlands zur EU im Jahr 1981. Mit diesem Beitritt eröffneten sich quasi über Nacht 4 Freiheiten für Griechenland, wobei die griechische Volkswirtschaft für 2 dieser 4 Freiheiten absolut nicht gerüstet war - die Freiheiten des Waren- und Kapitalverkehrs. Die Freiheit des Warenverkehrs erlaubte den Griechen auf der Mikro-Ebene über Nacht die besten Güter zum besten Preis überall in der Welt einzukaufen. Auf der Makro-Ebene stellte sich heraus, dass es diese Güter leider nur außerhalb von Griechenland gab. Und finanziert mußten diese Importe nicht mit Exporten werden, weil der freie Kapitalverkehr mehr als ausreichend Kapital ins Land brachte. Wie schon gesagt, eine hervorragende Sache für alle Griechen auf der Mikro-Ebene, ein Desaster für das Land auf der Makro-Ebene. Griechenland wurde zur Drehscheibe für Geld: auf der einen Seite kam Geld ins Land in der Form von Krediten, auf der anderen Seite verließ Geld das Land in der Form von Leistungsbilanzdefiziten. Die Binnenwirtschaft ging dabei über weite Strecken zu Grunde. Auf solche Fehlentwicklungen muß eine differenzierte Betrachtung von Protektionismus-Globalisierung hinweisen, um nicht den Planwirtschaftlern Gegenargumente zu liefern.
Es wurde und wird immer wieder - leider sehr undifferenziert - argumentiert, dass freier Handel und Kapitalverkehr automatisch zu Wohlstandsvermehrung aller Beteiligten führen, weil jedes Land die Stärken seiner eigenen Volkswirtschaft entwickelt. Das hat sicherlich für Österreich gegolten. Mit dem EU Betritt und vor allem mit dem späteren Euro-Beitritt wurde die österreichische Wirtschaft in der Tat bis an ihre Grenzen getestet und sie hat sich wunderbar erfolgreich angepaßt. Man darf aber nicht vergessen, dass Österreich eine Wirtschaftskultur hat, die sich von beispielsweise jener Griechenlands völlig unterscheidet. Außerdem hatte Österreich einmal einen Finanzminister Androsch, der schon früh die Weichen für die spätere Anpassungsfähigkeit gestellt hatte. Griechenland hatte keinen solchen Finanzminister und schon gar nicht eine Wirtschaftskultur, die auf globale Anpassungserfordernisse vorbereitet war. Solche Aspekte müssen immer berücksichtigt werden, bevor man blind freiem Handel und Kapitalverkehr das Wort redet.
In der heutigen globalen Wirtschaft steht ein Elefant im Raum, ohne den diese globale Wirtschaft in der jetzigen Form gar nicht funktionieren könnte. Ich spreche von der US Volkswirtschaft, die nun schon seit 3-4 Jahrzehnten Jahr für Jahr gigantische Leistungsbilanzdefizite registriert. Die Leistungsbilanzdefizite der USA stellen im Verhältnis 1:1 Leistungsbilanzüberschüsse im Rest der Welt dar. Anders ausgedrückt: die USA betreiben - bewußt oder unbewußt - schon seit Jahrzehnten ein massives cross-border deficit spending für den Rest der Welt. Das Defizit der USA trägt maßgeblich zu Wachstum und Wohlstand im Rest der Welt bei.
Dies kann nur deshalb funktionieren, weil die USA das privilège exorbitant genießen, sich in einer Währung verschulden zu können, die sie selbst drucken können und die die maßgebliche Reservewährung ist. Gleichzeitig sind die USA ein hoch interessanter Standort für Investitionen aus aller Welt. Die USA überfluten den Rest der Welt mit Dollar als Bezahlung für ihre Leistungsbilanzdefizite und die Wall Street erfindet die Anlageprodukte, um diese Dollar wieder zurückzuholen. Yanis Varoufakis hat darüber einmal ein Buch geschrieben („The Global Minotaour“), ein Buch, das nur deswegen Erfolg haben konnte, weil Fehlentwicklungen im freien Handel und Kapitalverkehr die passenden Gegenargumente dazu lieferten.
Der US Präsidentschaftskandidat Ross Perot prophezeite im Wahlkampf 1992, dass man einen „giant sucking sound of jobs leaving the country“ hören würde, wenn die USA auf Dauer Leistungsbilanzdefizite registrieren würden. Warren Buffett hat zu diesem Thema einmal die Parabel „Thriftville versus Squanderville“ geschrieben. Buffett kennt sich mit Bilanzen aus. Er bezeichnet das US Leistungsbilanzdefizit bilanztechnisch als eine „reduction of national net worth“. In der Zahlungsbilanz erkennt man es daran, dass sich die USA in den letzten 3-4 Jahrzehnten vom größten Kreditgeber zum größten Schuldner der Welt gewandelt haben.
Das blinde Vertrauen in freien Handel und Kapitalverkehr hat dazu geführt, dass heute die globale Wirtschaft darauf basiert, dass ein Player, noch dazu der größte Player (die USA) grenzüberschreitend weit über seine Verhältnisse leben kann und damit Wachstum und Wohlstand im Rest der Welt vorantreibt. Die Ungleichgewichte haben gigantische Ausmaße erreicht. Faktum sollte jedoch sein, dass ein System, das darauf basiert, das der größte Marktteilnehmer offenbar grenzenlos über die eigenen Verhältnisse leben kann, auf Dauer nicht wirklich funktionieren wird.
All das sind Überlegungen, die bei einer differenzierten Betrachtung von Protektionismus-Globalisierung nicht fehlen sollten.
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